GlaubensbrթƒԹԶder und Leidensgenossen

Am 06.05.2012 hat Armenien sein neues Parlament gewթƒԹ)hlt. Nach dem vorlթƒԹ)ufigem Ergebnis erhielt die Republikanische Partei des amtierenden PrթƒԹ)sidenten Serge Sarkisian etwa 44 % der Stimmen und kann damit erstmals alleine regieren. Westliche Beobachter lobten einen offenen Wahlkampf unter GewթƒԹ)hrleistung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, bemթƒԹ)ngelten aber Wahlmanipulationen. Verglichen mit den Ausschreitungen 2008, die acht Tote und zahlreiche Verhaftungen zur Folge hatten, war dies ein groթƒժԴer Fortschritt. Man sollte aber, sich an das Sprichwort mit dem einթƒԹ)ugigen KթƒԹԳnig unter Blinden erinnernd, nicht mit allzu groթƒժԴer Freude auf die Nachbarn im SթƒԹԶdkaukasus herabschauen. Wenigstens der Form halber bleibt zu hoffen, dass man sich in Zukunft hթƒԹԳhere Ziele setzt und die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholt.

Fehler wie diese etwa:

Die Nationalversammlung der Republik Armenien hat Mitte MթƒԹ)rz 2012 einen Gesetzesentwurf zur Verurteilung des VթƒԹԳlkermordes an den Assyrern, Pontiern, Hellenen und anderen VթƒԹԳlkern des Osmanischen Reiches, abgelehnt. Nur 17 Abgeordnete stimmten fթƒԹԶr das Gesetz, wթƒԹ)hrend die Mitglieder der Regierungskoalition sich der Stimme enthielten.1

Mitglieder der regierenden, konservativen Partei, Hayastani Hanrapetakan Kusaktsutyun (HHK) nannten die Initiative sinnlos und stellten fest, dass Armenien den Genozid an den VթƒԹԳlkern des Osmanischen Reiches als Ganzes bereits zusammen mit dem VթƒԹԳlkermord an den Armeniern verurteile. Der im Dezember vergangenen Jahres zum Vizesprecher des Parlamentes gewթƒԹ)hlte Eduard Sharmazanov (HHK), ein Armenier mit griechischen Wurzeln, թƒԹ)uթƒժԴerte UnverstթƒԹ)ndnis fթƒԹԶr den eingebrachten Gesetzesentwurf. Er wies darauf hin, dass in der Zeit von 1915 թ§Չ‚-Չ€œ 1920 an den christlichen VթƒԹԳlkern des Osmanischen Reiches ein VթƒԹԳlkermord begangen wurde. Auch wenn andere VթƒԹԳlker ebenso Opfer zu beklagen hթƒԹ)tten, so nթƒԹ)hme die internationale Staatengemeinschaft die Ereignisse als թ§Չ‚-ժԷVթƒԹԳlkermord an den Armeniernթ§Չ‚-ժ“, quasi stellvertretend fթƒԹԶr die Opfer der anderen christlichen Gemeinschaften, wahr. Dementsprechend seien die Ereignisse in Tateinheit vom Staat Armenien bereits anerkannt worden und der Entwurf sei als nutzloser Formalismus zu qualifizieren.

ParlamentsprթƒԹ)sident Samvel Nikoyan (HHK) verteidigte die Ablehnung des Gesetzesentwurfes mit dem Hinweis, dass die weltweit mթƒԹ)chtigsten Staaten vor einer solch verurteilenden Entscheidung regelmթƒԹ)թƒժԴig den eigenen nationalen Interessen den Vorrang geben wթƒԹԶrden und auch Armenien sich hier lediglich dieses Rechtes bediene.

Stepan Safaryan, Fraktionschef der oppositionellen Zharangutyun, einer liberalen Partei der Mitte, die den Gesetzesentwurf verfasste, war ebenso erstaunt wie empթƒԹԳrt թƒԹԶber die Entscheidung. Es sei bestթƒԹԶrzend und vor allem nicht nachvollziehbar, dass eine Nation von թƒժ“berlebenden eines VթƒԹԳlkermordes den VթƒԹԳlkermord an einem anderen Volk nicht anerkenne.

Armen Martirosyan (Zharangutyun) betonte energisch, dass genau diese mթƒԹ)chtigen LթƒԹ)nder, von denen Nikoyan spreche, selbst keinen VթƒԹԳlkermord erlebt hթƒԹ)tten und sich aufgrund dessen diese GroթƒժԴzթƒԹԶgigkeit erlaubten.

Ein weiteres Mitglied der oppositionellen Zharangutyun, Zaruhi Postaniyan, erklթƒԹ)rte, sie habe den Eindruck, die regierende HHK stթƒԹԶnde offensichtlich unter tթƒԹԶrkischem Einfluss, da sie deren Gebaren nachahme. Sie bedauerte, dass die aktuelle armenische Nationalversammlung sich der Politik des Nachfolgers des Osmanischen Reiches annehme und Ergebnisse wie die armenisch-tթƒԹԶrkischen Protokolle, und aktuell die Verweigerung der Verurteilung des VթƒԹԳlkermordes an den nicht-armenischen Christen, zur Schau trage. Ein solches Verhalten sei, so Zaruhi Postaniyan, nicht angemessen fթƒԹԶr das armenische Volk.

Man debattierte թƒԹԶber die 2008 unterzeichneten Protokolle zur armenisch-tթƒԹԶrkischen VersթƒԹԳhnung. WթƒԹ)hrend die Opposition sich wiederholt fթƒԹԶr die Aufhebung der Vereinbarungen aussprach, betonte ParlamentsprթƒԹ)sident Samvel Nikoyan, dass man an den Protokollen festhalten werde. Sie seien Ausdruck des Respekts fթƒԹԶr die BemթƒԹԶhungen der internationalen Partner, die maթƒժԴgeblich zur Normalisierung der Beziehungen zwischen der TթƒԹԶrkei und Armenien beitrթƒԹԶgen.

Geht man davon aus, dass Armenien als souverթƒԹ)ner Staat freiwillig die o.g. VersթƒԹԳhnungsvertrթƒԹ)ge unterzeichnet hat, muss betont werden, dass das Interesse der von Armenien respektierten թ§Չ‚-ժԷinternationalen Gemeinschaftթ§Չ‚-ժ“ sich ausschlieթƒժԴlich auf energiepolitische Gesichtspunkte beschrթƒԹ)nkt und ihre BemթƒԹԶhungen dort ihren Ursprung haben. Es geht den Amerikanern und den EuropթƒԹ)ern um die Befreiung aus russischen AbhթƒԹ)ngigkeiten durch den HoffnungstrթƒԹ)ger namens Nabucco-Pipelines, die Gas quer durch die TթƒԹԶrkei befթƒԹԳrdern sollen.

Es ist offensichtlich: Armenien kann nichts Entsprechendes bieten und ist aufgrund seiner schwierigen geopolitischen Lage abhթƒԹ)ngig vom Wohlwollen seiner internationalen Partner. Es ist ein Leichtes, die SouverթƒԹ)nitթƒԹ)t des armenisches Staates zu թƒԹԶbergehen und durch AusթƒԹԶbung von Druck parlamentarische Entscheidungen in gewթƒԹԶnschte Bahnen zu lenken. Einzig Russland ist hier bereit, sich schթƒԹԶtzend vor den christlichen Staat im Kaukasus zu stellen.

Und dennoch: Selbst wenn man vor diesem Hintergrund die Genozid-Entscheidung der Republik Armenien entschuldigt, wird man nicht drum herum kommen, die Scham auslթƒԹԳsende BegrթƒԹԶndung der ablehnenden Entscheidung zu verurteilen.

Armenien hat zugegebenermaթƒժԴen selbst genug eigene auթƒժԴenpolitische, existentielle Herausforderungen zu meistern. Die Tatsache, dass es zu wenige StraթƒժԴenverbindungen zu den Nachbarstaaten gibt, behindert den Transport von Waren erheblich. Hinzu kommt eine Energieblockade. All dies behindert die Weiterentwicklung des Staates ebenso wie den Aufstieg der armenischen WirtschaftskrթƒԹ)fte. Probleme թ§Չ‚-ժԷder Anderenթ§Չ‚-ժ“ kթƒԹԳnnen an diesem Punkt nicht besonders erwթƒԹԶnscht sein. Strenggenommen sind թ§Չ‚-Չ€œ auf politischer Ebene թ§Չ‚-Չ€œ nicht einmal die BemթƒԹԶhungen der armenischen Diaspora zur Anerkennung des VթƒԹԳlkermordes an den Armeniern erwթƒԹԶnscht. Sie werden mit Blick auf die wirtschaftliche Zukunft des Staates von nicht wenigen als weiterer Stolperstein wahrgenommen.2

Das von den Parlamentariern angefթƒԹԶhrte nationale Eigeninteresse, mթƒԹ)chtige Drittstaaten zwecks eigener AbhթƒԹ)ngigkeiten nicht zu verթƒԹ)rgern, reicht hier nicht als Legitimation. Die moralische Verpflichtung obliegt Armenien als demokratischer, sich den Menschenrechten verschreibender Staat dennoch ebenso wie allen anderen Staaten, die sich den selben GrundsթƒԹ)tzen verschrieben haben.

Eine besondere Verpflichtung ergibt sich sodann als Leidensgenosse der betreffenden Ereignisse. Armenier sollten um die Bedeutung einer offiziellen Anerkennung als Genozid wissen. Sie mթƒԹԶssten wissen, dass jedes einzelne Opfer, vertreten von seinen Nachkommen, die Anerkennung seiner Leidensgeschichte ersehnt.

Der Einwand des republikanischen Eduard Sharmazanov, alle anderen christlichen Opfer des VթƒԹԳlkermordes bereits durch Anerkennung an den Armeniern einheitlich bzw. zusammenfassend bereits anerkannt zu haben, wird dem Anspruch der nicht-armenischen Opfer nicht gerecht. Zudem ist er, mit Blick auf die Opferzahlen, schlichtweg unrichtig. WթƒԹ)hrend im Osmanischen Reich etwa 1,5 Mio. Armenier getթƒԹԳtet wurden, sind etwa 500-750.000 Assyrer und AramթƒԹ)er sowie noch eine halbe Million Pontier umgebracht worden. In der internationalen Debatte um die Anerkennung des թ§Չ‚-ժԷarmenischenթ§Չ‚-ժ“ Genozides geht man nicht von einer Gesamtsumme von թƒԹԶber 2,5 Mio. Opfern aus. Letztendlich wird mit dieser Argumentation die IdentitթƒԹ)t der Opfer թƒԹԶbergangen. Es mag zynisch erscheinen, doch genau hier betreibt Eduard Sharmazanov post mortem das, was AtatթƒԹԶrk den christlichen թƒժ“berlebenden des osmanischen VթƒԹԳlkermordes aufbթƒԹԶrdete: er raubte ihnen mit der TթƒԹԶrkisierung ihre SouverթƒԹ)nitթƒԹ)t.

Die Entscheidung missachtet darթƒԹԶber hinaus nicht nur die moralische Verpflichtung des armenischen Staates, in dieser Angelegenheit respektvoll mit GlaubensbrթƒԹԶdern und Leidensgenossen umzugehen. Unheilvoll ist die Entscheidung auch mit Blick auf ausschlieթƒժԴlich armenische Belange und dient diesen թ§Չ‚-Չ€œ trotz Fokus des Parlamentes auf Eigeninteressen թ§Չ‚-Չ€œ nicht. Vielmehr noch lթƒԹ)uft sie ihnen zuwider. Mit der Nichtanerkennung des VթƒԹԳlkermordes an Assyrern, AramթƒԹ)ern und Pontiern schieթƒժԴt der armenische Staat gleich zwei strթƒԹ)fliche Eigentore.

Zum einen bietet die BegrթƒԹԶndung mit nationalen Interessen sթƒԹ)mtlichen Staaten, die sich mit der Anerkennung des Armenier-Genozides թ§Չ‚-Չ€œ etwa den USA oder Israel թ§Չ‚-Չ€œ eine Entschuldigung, wenn nicht gar eine Rechtfertigung fթƒԹԶr die Ablehnung der entsprechenden, vor allem von der armenischen Diaspora lang ersehnten, Resolutionen. Die gleiche Rechtfertigung bietet die Armenische Republik fatalerweise auch der TթƒԹԶrkei, den Nachkommen der osmanischen TթƒԹ)ter. Auch sie haben nationale Interessen, aufgrund derer sie den VթƒԹԳlkermord an den Armeniern (und nicht nur an ihnen!) leugnen. Es geht ihnen um den guten Ruf mit Blick auf die Vergangenheit des Landes, also um die sog. թ§Չ‚-ժԷWeiթƒժԴe Westeթ§Չ‚-ժ“ und die nationale Ehre, das in der tթƒԹԶrkischen MentalitթƒԹ)t bedeutendste Gut. Ein guter Ruf dient dem regionalen wie globalen Ansehen und damit der Machterweiterung und dem Wohlstand. Nicht zuletzt geht es um die Wahrnehmung religiթƒԹԳser Interessen, denn nach MinisterprթƒԹ)sident Erdogan թ§Չ‚-ժԷkթƒԹԳnnenթ§Չ‚-ժ“ die Moslems keinen VթƒԹԳlkermord begehen.

Zum anderen untergrթƒԹ)bt die Republik Armenien ihre GlaubwթƒԹԶrdigkeit und die der armenischen Diaspora. Damit torpediert sie die intensiven BemթƒԹԶhungen der armenischen Diaspora zur internationalen Verurteilung durch Anerkennung als VթƒԹԳlkermord im Sinne der UN-Konvention. Dies gilt umso mehr, als es sich bei dem, der Entscheidung zugrundeliegenden VթƒԹԳlkermord, um jenen handelt, der sich zur selben Zeit und an den selben Orten des Verbrechens ereignete.

WթƒԹ)hrend die TթƒԹԶrkei und die in Europa bzw. Amerika lebenden TթƒԹԶrken vereint Gelder in MillionenhթƒԹԳhe in die propagandistische Leugnungsindustrie investieren, um ihre Deutungshoheit թƒԹԶber die Geschichte zu prթƒԹ)sentieren, zieht die Republik Armenien an dem einen Ende des Fadens, wթƒԹ)hrend die Diaspora an dem anderen Ende zieht. Das Debakel ist vorprogrammiert.

hay-society.de

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