Wer zu den Pionieren wichtiger Vorhaben wie der Demokratisierung eines in dieser Hinsicht rթԹԶckstթԹ)ndigen Landes zթԹ)hlt und dafթԹԶr Tabus brechen muթժԴ, der gerթԹ)t leicht zwischen die Fronten. So geschah es dem tթԹԶrkischen Professor Halil Berktay, der an der renommierten Istanbuler Sabanci-UniversitթԹ)t Geschichte lehrt und einer der ersten Intellektuellen seines Landes war, der den VթԹԳlkermord an den Armeniern 1915/16 in der TթԹԶrkei thematisierte, den die Regierung noch immer leugnet.
Am 13. Mai 2010 hatte der Historiker in einer der wenigen liberalen tթԹԶrkischen Tageszeitungen – Taraf – auf die Frage eines Doktoranden, ob in der TթԹԶrkei ein Historiker frei arbeiten kթԹԳnne oder nicht geantwortet: ja und nein. Die Freiheit in seinem Lande sei so halbgar wie die Demokratie, die offizielle Ideologie der Genozidleugnung hingegen bestens etabliert. Das tթԹԶrkische Unterrichtssystem sei eher preuթժԴisch organisiert, auf allen Ebenen herrsche in grթԹԳթժԴtem MaթժԴe Gehorsam und Konformismus. Da sei kein Platz fթԹԶr Intelligenz, Ehrlichkeit und Klarheit bei den Studenten und jungen UniversitթԹ)tsabsolventen. Man lehre nicht, sondern formiere. Der Geist wթԹԶrde erschlagen und der Zement fթԹԶr all das sei der Nationalismus.
Wenn von der թ§Չ-ժԷnationalen Sacheթ§Չ-Թ die Rede sei, so Berktay, setzten sich alle in Bewegung. Dann trթԹ)ten թ§Չ-ժԷunsere Theseթ§Չ-Թ und die թ§Չ-ժԷarmenische Theseթ§Չ-Թ in Aktion. Da bliebe dann die Wahrheit und die wissenschaftliche IntegritթԹ)t auf der Strecke. Es sei schwer, sich diesen թ§Չ-ժԷnationalen und geistigen Wertenթ§Չ-Թ entgegenzustellen, die in den letzten dreiթժԴig Jahren, besonders aber in den letzten zehn vom Nationalismus neu definiert worden seien. In den entwickelten kapitalistischen LթԹ)ndern herrsche vielleicht das Geld, in der TթԹԶrkei sei es der Staat, die Nation, der Gehorsam, die Kuratel, die mehr als das Geld den Sieg թԹԶber die Ehre und das Gewissen davon trթԹԶgen.
Sodann regte sich Berktay թԹԶber den Tamtam auf, den die tթԹԶrkische Presse veranstaltet habe, nachdem der AuթժԴenpolitische AusschuթժԴ des amerikanischen Kongresses sein Votum թԹԶber den VթԹԳlkermord an den Armeniern abgegeben hat. Und dann kam der Satz, der bei den Armeniern zum Eklat fթԹԶhrte. թ§Չ-ժԷNeinթ§Չ-Թ, schrieb Berktay, թ§Չ-ժԷdie Anerkennung des Genozids ist kein hթԹԳheres Gut als die Demokratisierung der TթԹԶrkei. Nein, die (offizielle) Anerkennung des VթԹԳlkermords von 1915 bringe keinen dringenden oder praktischen Vorteil fթԹԶr die Welt.թ§Չ-Թ Er lese die Deklarationen des ANCA (Armenian National Committee of America): թ§Չ-ժԷWarum wir gewonnen haben. Wie wir gewonnen haben.թ§Չ-Թ Das widere ihn an. Gleichzeitig widere ihn die nationalistischen und staatlichen (tթԹԶrkischen) Medien an, die auf die Politik der Leugnung des Genozids fixiert seien. թ§Չ-ժԷUnd ich bin deshalb so verթԹ)rgertթ§Չ-Թ, wetterte er gegen die eigene Presse, թ§Չ-ժԷweil die einfach lթԹԶgt, obgleich sie genau weiթժԴ, was passiert ist.թ§Չ-Թ Aber dann kթԹ)men immer wieder von tթԹԶrkischer Seite diese hysterischen AusbrթԹԶche, die թ§Չ-ժԷnotwendigenթ§Չ-Թ LթԹԶgen, all diese einstudierten Rollen, diese ganze Heuchelei. In einer solchen Umgebung mթԹԶsse sich heute in der TթԹԶrkei die freie Wissenschaft behaupten.
Berktay weigerte sich also, das Wort թ§Չ-ժԷGenozidթ§Չ-Թ auf einer Fahne vor sich herzutragen. Erst mթԹԶsse die Demokratisierung seines Landes voranschreiten, so seine These, dann kթԹ)me die Erkenntnis, daթժԴ 1915 ein VթԹԳlkermord stattgefunden habe von selbst. Jetzt gabթ§Չ-Չ§s Tamtam auf armenischer Seite. Das, wie es sich selbst nennt, franzթԹԳsische թ§Չ-ժԷInformationskollektivթ§Չ-Թ VAN (Vigilance ArmթԹ.nienne contre le NթԹ.gationismeթ§Չ-Թ – թ§Չ-ժԷArmenische Wachsamkeit gegen die Leugnung von Genozidenթ§Չ-Թ) nannte Berktay թ§Չ-ժԷeinen Historiker, einen Intellektuellen, der durch seinen թ§Չ-ժԷbezeichnenden Artikel die ganze Schizophrenie eines groթժԴen Teil der tթԹԶrkischen Intellektuellen aufzeigt.թ§Չ-Թ Berktay habe bewiesen daթժԴ seine Generation dem tթԹԶrkischen Erziehungssystem, das er kritisiere, keineswegs entkommen ist. Einer der herausragenden tթԹԶrkischen Reformer in Sachen VթԹԳlkermord an den Armeniern, der schon vor fթԹԶnf Jahren nach dem Bundestagsvotum zusammen mit dem spթԹ)ter ermordeten TթԹԶrkisch-Armenier Hrant Dink auf einer Veranstaltung der BթԹԳllstiftung in Berlin թԹԶber den VթԹԳlkermord an den Armeniern und seine Leugnung in der TթԹԶrkei gesprochen hatte, wird also vom franzթԹԳsisch-armenischen Wachsamkeitskollektiv – das an sich eine nթԹԶtzliche Arbeit leistet – praktisch den tթԹԶrkischen Nationalisten und VթԹԳlkermordleugner gleichgestellt.
Kurze Zeit darauf, am 22. April, hielt Berktay in der Hamburger UniversitթԹ)t einen Vortrag, zu dem sich viele TթԹԶrken, Kurden, Armenier und AramթԹ)er – und auch Deutsche – eingefunden hatten. թ§Չ-ժԷJa, es war ein VթԹԳlkermordթ§Չ-Թ, stellte der angeblich schizophrene tթԹԶrkische Historiker in seiner in TթԹԶrkisch gehaltenen Rede fest. Es sei ein VթԹԳlkermord nach der UN-Konvention, wenn diese rթԹԶckwirkend angewendet wթԹԶrde, denn die armenische BevթԹԳlkerung sei թ§Չ-ժԷweitgehend vernichtetթ§Չ-Թ worden.
Berktay dozierte sodann nicht թԹԶber den VթԹԳlkermord selbst, sondern թԹԶber die Geschichte seines Vergessens und seiner Wiederentdeckung, des Einschlafens und des Wiedererwachens, wie er es nannte. Bis etwa 1940 sei der VթԹԳlkermord noch in der Erinnerung aller gewesen und keineswegs verleugnet worden. թ§Չ-ժԷAlle wuթժԴten, was passiert warթ§Չ-Թ, sagt er. Auch SchamgefթԹԶhle seien verbreitet gewesen, der VթԹԳlkermord sei als ein Makel fթԹԶr die TթԹԶrkei empfunden worden. Allerdings hթԹ)tten die TթԹԶrken die Meinung vertreten, das Vaterland verteidigt und die Armenier fթԹԶr ihre Vermessenheit (einen eigenen Staat auf tթԹԶrkischem Territorium errichten zu wollen) bestraft zu haben.
Dann jedoch sei der Wissensdiskurs eingestellt, ein Erinnerungsdiskurs aber nicht entwickelt worden. Neue Institute hթԹ)tte eine neue Ideologie entwickelt und nur թ§Չ-ժԷdie saubere Seiteթ§Չ-Թ der Befreiungskriege geschildert. FթԹԶr den armenischen Diskurs sei kein Platz mehr gewesen. Die systematische Verleugnung habe, von den Putschisten gefթԹԳrdert, vor 35 Jahren eingesetzt und sei zur Staatskultur erhoben worden. Weiter kam er nicht. Eine Gruppe von Kemalisten versuchte ihn niederzubrթԹԶllen, die Mehrzahl der ZuhթԹԳrer verlangten Ruhe, die aber nicht einkehrte. Der UniversitթԹ)tsvertreter drohte gar mit Polizei. Die Kemalisten warfen Berktay vor, Mustafa Kemal und die tթԹԶrkische Nation zu beleidigen – das Standardritual der Genozidleugner, das um so bizarrer wirkte, als Berktay ausdrթԹԶcklich den Landesvater AtatթԹԶrk, allerdings nicht seine Gefolgsleute, von jeder Verstrickung in den VթԹԳlkermord an den Armeniern ausgenommen hatte. Die Attacke der Kemalisten lief denn auch beim Publikum ins Leere und die selbsternannten WթԹ)chter des angeblich wahren TթԹԶrkentums verlieթժԴen den Raum.
Was in der TթԹԶrkei mթԹԳglicherweise eher im Privaten geschieht, rթԹԶckt in Deutschland immer mehr in die թՉffentlichkeit, wo die Bezeichnung der Ereignisse von 1915 als VթԹԳlkermord allerdings auch nicht, wie in der TթԹԶrkei, strafbewehrt ist. Ein herausragendes Beispiel dieser neuen թՉffentlichkeit waren die Feierlichkeiten zum 24. April in der Hamburger Hauptkirche St. Petri. Syrisch-orthodoxe, armenisch-apostolische und katholische Geistliche zelebrierten eine gemeinsame Totenmesse, gefolgt von einer Ansprache der protestantischen BischթԹԳfin Maria Jepsen. Der Vortrag des tթԹԶrkischen Vertreter des EuropթԹ)ischen Friedensrats TթԹԶrkei/Kurdistan, Murat թՉ❁akir und die Worte der tթԹԶrkische SթԹ)ngerin Lehman Stehn – die anschlieթժԴend das ursprթԹԶnglich armenische Lied թ§Չ-ժԷSari Galinթ§Չ-Թ, das in ihrer Heimat inzwischen nur TթԹԶrkisch gesungen wird, auf Armenisch vortrug – hatten entscheidenden Anteil daran, daթժԴ eine AtmosphթԹ)re echter Trauer entstand, die den Berliner Antisemitismusforscher Prof. Wolfgang Benz in seiner Festrede zu der Bemerkung bewegte, so etwas habe er noch nie erlebt. AusdrթԹԶcklich lobte er den Politiker թՉ❁akir fթԹԶr seinen Beitrag.
Toros Sarian von der թ§Չ-ժԷInitiative zum Gedenken an den VթԹԳlkermord 1915թ§Չ-Թա die թԹԶber eine Woche lang in Hamburg eine Reihe von Veranstaltungen durchfթԹԶhrte, zitierte in seinem SchluթժԴwort Martin Luther Kingթ§Չ-Չ§s թ§Չ-ժԷI have a dreamթ§Չ-Թ und nannte seinen Traum: Einmal im Dorf seiner GroթժԴeltern im Innern Anatoliens ein kleines Mahnmal fթԹԶr den VթԹԳlkermord zu errichten und auch Blumen an den GrթԹ)bern jener TթԹԶrken und Tscherkessen niederzulegen, die mit groթժԴem Mut seine GroթժԴeltern versteckt hatten und sie aufzogen, ohne jemals den Versuch zu unternehmen, sie von ihrem armenischen-apostolischen Glauben abzubringen.
Diese Politik der kleinen Schritte und leisen TթԹԳne – im Gegensatz zu den lauten und unversթԹԳhnlichen, die es anderswo auch gab – ist ziemlich neu. Sie kann nicht mit breitem Zuspruch rechnen, aber sie ist die einzige, die erst die KթԹԳpfe frei macht fթԹԶr das verloren gegangene oder verdrթԹ)ngte Wissen um das Geschehene und spթԹ)ter einmal die Herzen, um Verzweiflung und HaթժԴ aus ihnen zu verbannen. Es wթԹ)re gut, wenn die groթժԴe Politik versuchen wթԹԶrde, diese sich noch mթԹԶhsam ihren Weg suchende StrթԹԳmung behutsam zu begleiten und der Versuchung widerstթԹԶnde, sie fթԹԶr ihre Zwecke zu kanalisieren.
Wolfgang Gust
27.04.2010
armenieninfo.net
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